Welt-Alzheimertag: Mit Herz und (Hunde-) Schnauze
Thiago steckt seine Schnauze tief in die alte silberne Suppenkelle. Nach links, nach rechts verdreht er hastig mit schleckender Zunge seinen golden-zotteligen Kopf, bis kein Krümel mehr übrig ist von den Leckerlies, die ihm Frau Schenker* anreicht. "Es scheint ihm zu schmecken", sagt sie leise. Das Sprechen fällt der alten Dame, die im Rollstuhl sitzt, schwer, genau wie das Halten der Kelle. Zitternd umklammern ihre knochigen Finger das Kochutensil. "Was schmeckt Ihnen denn, was haben Sie früher am liebsten gekocht?", fragt Marita Behrens.
Die Hundetherapeutin und Trauerbegleiterin ist mit ihrem Hund zu Besuch im Kardinal-Bengsch-Seniorenzentrum, wo sie eine Trauergruppe für dementiell erkrankte Menschen anbietet. Gerade zu Beginn der Krankheit spiele Trauer bei den Betroffenen eine große Rolle, erklärt Marita Behrens. "Wenn sie noch reflektieren können, wird ihnen bewusst, wie bisher ihr Leben war, was nun nicht mehr geht." Die Trauer sei ein wichtiger, aber viel zu vernachlässigter Teil der Demenz, kritisiert Marita Behrens. Mit Thiago und ihrem Therapiekonzept will sie dazu beitragen, dass sich das ändert.
Fünf Frauen sitzen an diesem Dienstagnachmittag im Kreis. Thiago stupst seine Schnauze an Frau Schenkers Knie. Sie merkt nichts von dem Versuch, noch mehr Leckerlies zu bekommen. Sie denkt über ihr Lieblingsgericht nach. "Kochen" hat sich Marita Behrens heute als Thema überlegt, um mit den demenzkranken Frauen ins Gespräch zu kommen.
Auf einem Tisch hat sie ihre Arbeitsmaterialien für die Stunde ausgebreitet: ein rotes Plastikrohr, gefüllte Tütchen, Papptafeln, ein Holzbrett mit Figürchen und ein großer Schaumstoffwürfel. Mit dem soll sich Thiago weitere Leckerlies verdienen. Mit seinen Vorderpfoten bewegt er den Würfel so, dass die "5" nach oben zeigt. Die Hundetherapeutin greift die mit der entsprechenden Zahl markierte Tüte. "Frau Walter*, wollen Sie ihm das geben?", motiviert Marita Behrens und greift zur Kelle. "Ach, die brauche ich doch nicht", wehrt Frau Walter ab. "Wir hatten früher doch auch Hunde", sagt sie und reicht Thiago die Leckerlies mit der Hand.
"Thiago ist der Türöffner", erklärt Marita Behrens. Mit Hilfe des Hundes öffnen sich die Gruppenteilnehmer. Bei dem einen sind es die Erinnerungen, an den eigenen Hund, bei dem anderen schafft es Thiago einfach mit einem liebevollen Nasenstupser ihn aus der abgeschiedenen Gedankenwelt ins aktive Geschehen zurückzuholen.
Abwechslung in den Heimalltag zu bringen sei ein wichtiger Punkt, erklärt Marita Behrens, aber das sei nicht ihr Hauptanliegen. "Ich möchte wirklich mit den Menschen Trauerarbeit leisten, mit ihnen intensiver arbeiten. Das ist in einer so heterogenen Gruppe, wie wir sie hier haben schwierig." Deshalb hat sie ihr Konzept überarbeitet. "Ich konnte eine weitere Hundetherapeutin gewinnen, die diese offene Gruppe übernimmt und zusätzlich bettlägrige Bewohner besucht. Ich werde dann mit einer festen Gruppe arbeiten, die es mir möglich macht, mehr in die Tiefe zu gehen." Auch eine Erfahrung auf einer onkologischen Station im Krankenhaus, motiviert sie, weitere Einsatzbereiche auszubauen und zu ermöglichen: "Ich wurde zu einer Patientin gerufen, die an einem Gehirntumor erkrankt war und seit Tagen nicht mehr auf ihre Umwelt reagierte", erinnert sie sich. "Thiago hatte ich bei einer Krankenschwester gelassen. Weil er mich vermisste, brachte diese ihn mir schließlich ins Krankenzimmer. Er sprang sofort ans Bett und stupste die Patientin an ihrer gelähmten Hand. In diesem Moment machte die Frau ihre Augen weit auf, begann zu lächeln und sagte: 'Oh, ein Hund!'. Thiago hat geschafft, was uns Menschen nicht gelungen war: Einen Draht zu der Frau zu finden und ihr aus der Einsamkeit herauszuhelfen."
Seit März diesen Jahres darf sich Thiago "Therapiehund" nennen. Das Zertifikat haben sich er und sein Frauchen hart erarbeitet. "Mir war anfangs gar nicht klar, was diese Ausbildung auch für mich bedeutet", gibt Marita Behrens zu. Sie hat beispielsweise gelernt, dass man in der Gruppenarbeit immer einen Blick Richtung Hund haben muss, um sicher zu gehen, dass ihm die Teilnehmer nichts Verbotenes zu fressen geben. "Die meinen es gut und wollen ihm dann ein Stück Schokolade geben oder die Tablette, die sie sich statt einzunehmen in die Jackentasche geschmuggelt haben", erklärt Marita Behrens. "Gerade auf die Medikamentenproblematik wurden wir immer wieder hingewiesen." Auch eigene Therapiekonzepte musste die Tierliebhaberin immer wieder erarbeiten und vorstellen, um sich nun "Fachkraft für tiergestütze Therapie" nennen zu dürfen. "Voraussetzung dafür ist auch, dass man bereits in einem therapeutischen oder pädagogischen Bereich gearbeitet hat. Ich selbst bin ausgebildete Krankenschwester und Trauerbegleiterin", erklärt Marita Behrens.
Für Thiago begann die Ausbildung mit einer Wesensprüfung. Die Hundetrainer haben ihn beispielsweise erschreckt, worauf er nicht aggressiv reagieren darf. "Selbst wenn ich angegriffen werde, darf er unter keinen Umständen beißen. Absolute Friedfertigkeit und Intelligenz sind bei einem Therapiehund wichtig." Thiago ist ein Goldendoudle, eine Mischung aus Pudel und Goldenretriever. Diese Rasse ist gern in Kontakt mit Menschen, sehr friedfertig und allergikergeeignet, weil sie kaum haaren.
Der zottelige Vierbeiner hat es sich wieder auf dem Boden gemütlich gemacht und schaut mit seinen treublickenden braunen Augen in die Damenrunde. Gerade scheint kein Leckerlie in Sicht. Sein Frauchen unterhält sich mit Frau Maier* über deren Kartoffeln und Rüben, die sie früher mit ihrem Mann im Garten angebaut hatten und die doch so ganz anders dufteten als, die, die es heute im Supermarkt gibt.
Nach einer knappen Stunde ist es Zeit, Abschied zu nehmen. "Länger können sich dementiell Erkrankte meistens nicht konzentrieren. Auch das Sitzen strengt sie an", erklärt die Caritas-Frau. Noch einmal greift sie in ihre kleine Ledertasche, die sie schräg über die Schultern zu hängen hat, holt ein paar Leckerlies
heraus und füllt sie in die silberne Kelle. Sofort springt Thiago seinem Frauchen zur Seite. Bereitwillig trottet er zu Frau Schenker, gibt ihr sein linkes Pfötchen und stuckt dann seine Schnauze in die Kelle, dass ja kein Leckerliekrümel übrig bleibt.
"Nach so einem Einsatz, achte ich darauf, dass er abends nicht mehr so viel zu fressen bekommt und sich noch einmal im Grünen ordentlich bewegt", sagt Marita Behrens und lacht. Gemeinsam mit ihrem Vierbeiner geht es nun zurück zum Auto. "Dort schläft er meistens sofort ein. Therapiehund zu sein, ist anstrengend", gibt Behrens zu bedenken. "Es wird an einem gezupft und gezogen, es kann laut sein, wenn sehr kranke verwirrte Teilnehmer dabeisitzen." Und trotzdem: "Thiago freut sich immer total darauf."